Wie es ist, wenn Essen nur Stress und Qual bedeutet

Für viele Menschen ist Essen purer Genuss. Als Magersüchtiger bedeutet es aber vor allem Stress. Und die körperlichen wie psychischen Begleiterscheinungen sind extrem hart. Hier gebe ich euch einen Einblick, wie es mir bei jedem Bissen geht.

 

Bei Magersucht bedeutet Essen meistens Stress

Micha BierIch kann mich noch sehr gut daran erinnern, als ich mich zu den wahren
Genussmenschen zählen konnte. Die Gedanken kreisten nicht ständig nur um das Essen. Kalorienzählen, Schuld- und Ekelgefühle oder Stress gab es nicht. Es war einfach selbstverständlich. Seit dem Ausbruch meiner Magersucht hat sich dies allerdings um 100 % gewandelt. Jede Form der Nahrungsaufnahme tritt ein enormes Gefühlschaos los. Was zuerst im Kopf beginnt, spiegelt auch mein Körper wieder. Dieser reagiert mit verschiedensten „Symptomen“. Von Magenkrämpfen bis hin zu Schweißausbrüchen. Außenstehende können das nur sehr schwer nachvollziehen bzw. sich in eine solche Situation hineinfühlen. Heute möchte ich euch einen kleinen Einblick geben, wie die Anorexie sich beim Essen auf mentaler wie physischer Ebene bei mir bemerkbar macht.

Psychische Belastungsprobe und täglicher Kampf in meinem Kopf

Im alltäglichen Umgang mit meiner Essstörung habe ich mir eine feste Tagesstruktur angewöhnt. Dazu gehören vor allem fixe Essenszeiten. Leider stellen sich diese immer als psychische Belastungsprobe heraus. Das Kopfkino kennt hier unendlich viele Spiele, dass es mit mir treibt.

Es beginnt beim Aufstehen. Hier streiten sich Verstand und Anorexie. Die Logik sagt mir ganz klar, dass ich essen muss. Der Kopf meint fast immer das Gegenteil. Je näher die Essenszeiten rücken, desto abstruser werden Gedanken, Aufmerksamkeit bzw. mein persönliches Empfinden.

Die größte Hürde für mich ist irgendwie der Ekel. Schon lange fühlt es sich „falsch“ an, Nahrung im Magen zu haben. Bereits bei der Auswahl merke ich, dass ich mich nicht wirklich entscheiden kann. Ebenso kann ich nur schwer abschätzen, was eine „normale“ Portionsgröße ist. Ich sehe nur einen Teller, auf dem viel zu viel oben ist. Manchmal reicht bereits eine Scheibe Brot, um mir das Gefühl zu vermitteln, es sei unschaffbar. Trotzdem versuche ich, der Essstörung entgegenzutreten. Doch wird die innere Stimme mit jedem Bissen immer lauter. „Du darfst nicht!„, „du hast das nicht verdient!“ oder „du brauchst das nicht!“ sind nur einige Beispiele. Das Essen wird dadurch zur echten Zerreissprobe. Auf der einen Seite ist es die Anorexie, die mich fest im Griff hat. Auf der Andere der Hausverstand, welcher mir beipflichtet und mich motiviert. Dieser Umstand, die innere Unausgeglichenheit, erschwert das entspannte Essen zusätzlich und bedarf unermessliche Kräfte.

WäscheklammerNun, irgendwann ist die Mahlzeit vorüber. Jetzt gibt es 2 Möglichkeiten in meinem Kopf:

  1. Ich habe die vorgenommene Menge geschafft: Eigentlich müsste ich jetzt froh bzw. stolz sein. Ich hab es tatsächlich geschafft. Jetzt ist die Essstörung besonders laut. Sie vermittelt mir ein Gefühl des Versagens, der Schwäche. Ich fühle mich verloren und falle in ein Loch. Da sich bei mir kein bulimisches Verhalten zeigt, muss ich das Gefühl aushalten. Je nach Tagesverfassung geht es schneller oder langsamer vorbei. Eine konstruktive Ablenkung gelingt mir leider nur selten. Zu stark sind die Gedanken und das körperliche Empfinden von Völle sowie Unwohlsein.
  2. Die Essstörung war stärker: Es gibt Tage, an denen es nicht so gut läuft und ich nur mit großer Mühe ein paar Bissen hinunter bekomme. In diesem Fall ist die Dialektik besonders belastend. Die Essstörung triumphiert, weil sie ihr Ziel, mich vom Essen abzuhalten, erreicht hat. Das gibt mir irgendwie ein gutes Gefühl, als ob ich etwas Besonderes „geleistet“ hätte. Gleichzeitig wütet das eigene Gewissen. Ich weiß, dass ich stärker sein hätte sollen/können, aber klein bei gegeben habe. Diese Zerrissenheit macht es so schwer. Auf der einen Seite die Stimme, dich mich vehement vom Essen abhalten will. Ihr gegenüber der leise Ton des gesunden Hausverstandes.

Diese beiden Umstände machen ein Ausbrechen aus der Essstörung so schwer. Denn egal wie die Mahlzeiten ausgehen, sie sind mit schlechten Gefühlen verknüpft. Sei es Schuldgefühl durch das verbotene Essen. Sei es die gesunde Logik die mir ins Gewissen tritt. Fast immer verliere ich direkt nach dem Essen jegliches Gespür. Ich werde enorm hektisch und muss aufpassen, nicht in Panik oder unkontrollierte Handlungen zu verfallen. Eindrücke, Wahrnehmung sind getäuscht und ein abwechselndes Feuerwerk aus Heiß und Kalt durchschießt meinen Körper. Ist der erste „Ansturm“ abgeklungen, dann meldet sich spätestens jetzt meine Verdauung mit Krämpfen und Schmerzen.

Eine Essstörung fordert Psyche und Körper

Wie mein Körper auf die Essstörung reagiert

Ein beträchtlicher Teil der Magersucht spielt sich im eigenen Kopf ab. Dennoch bleibt der Körper nicht unverschont. Schon aufgrund langer Phasen des Wenigessens ist der Magen geschrumpft und kann keine entsprechenden Mengen mehr schmerzfrei aufnehmen. Zusätzlich versteht es die Anorexie perfekt, mir beim Essen körperliche Beschwerden zu verursachen. Jede/r Betroffene/r kann hier wohl seine eigene Geschichte erzählen. Die Symptome sind bei mir tagesunterschiedlich und treten in verschiedenen Kombinationen auf:

  • Fast immer bekomme ich schon vor dem Essen starke Magenkrämpfe. Dies liegt am innerlichen Stress bzw. der Unruhe. Es fühlt sich an, als würde sich der gesamte Magen und Darm verkrampfen. Schon alleine dieser Zustand erschwert es, mich in Ruhe hinzusetzen. Mein Körper ist dadurch immens angespannt.
  • Zusätzlich stellt sich manches mal eine Art Tunnelblick ein. Da alle Gedanken wirr um das Essen bzw. Nichtessen kreisen, ist es mir so gut wie unmöglich, mich nicht zu sehr darauf zu konzentrieren oder abzulenken.
  • Auch ein Ekel- bzw. Würgegefühl ist nicht unüblich. Man muss sich das so vorstellen, als würde einem die Kehle zugeschnürt. Mein Körper wehrt sich vehement mit viel Einfallsreichtum.
  • Durch diesen körperlichen Stresspegel kann es bei mir sogar zu leichtem Schwindel oder Schweißausbrüchen kommen. Selten sind zum Glück Panikanfälle.
  • Zusammen ist es also eine enorme Anstrengung für den Körper. Diese kostet nicht nur Kraft, sondern verbrennt zusätzlich unnötige Energie.
  • Aufgrund der langen Zeit, die mich die Essstörung jetzt schon begleitet, kenne ich weder Hunger- oder Sättigungsgefühl. Dies erschwert nicht nur die Nahrungszufuhr, sondern ebenso die richtige Mengenabschätzung.
6 Comments
    1. vielen Dank für den Zuspruch. Habe sehr lange damit gehadert, ob ich mich öffentlich „outen“ möchte :P. Aber es tut mir gut.
      Liebe Grüße Micha

  1. Sehr gut!
    Schwer zu schreiben und hadere lange damit – aber bin stolz auf dich, dass du deinen Kampf so ehrlich hier aufschreibst.

    Stay strong!

    Lg,
    Sandy

  2. Lieber Mike!

    Leider sprichst du mir aus der Seele. Ich verstehe dich und jeden der von dir erwähnten Gedanken….

    Von Herzen wünsche ich dir, dass du diesen Kampf gegen diese wirklich furchtbare Krankheit schaffst – ich denke an dich und schicke dir viele positive Gedanken!!!!

    Finde es toll wie offen du mit diesem Thema umgehst!

    Du schaffst das!

    1. Vielen Dank für die tollen Worte. Ich glaube, dass diese Gedanken viele Menschen, besondersauch Männer haben, aber keiner wirklich offen darüber reden möchte.
      Alles Liebe
      Micha

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