Alphabet des anarchistischen Amateurs nennt sich die aktuelle Ausstellung im < rotor >. Wie groß ist der Bedarf an Anarchismus in unserer demokratischen Gesellschaft? 51 Künstler/innen der Neuzeit haben sich dieser Frage gewidmet. Durch verschiedenste Kunstwerke kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen radikaldemokratischen Prinzipien und herrschaftsfreien Gesellschaftsideologien. Gerechtigkeit wie Gleichheit stellen hierbei das utopische Ziel des Diskurses.
Alphabet des anarchistischen Amateurs
Die Basis dieser Ausstellung bildet das Buch “Alphabet des anarchistischen Amateurs” von Herbert Müller-Guttenbrunn (1887 – 1945). Der österreichische Publizist, Schriftsteller und Satiriker befasste sich mit kontroversen Themen aus Individualität, Anarchismus sowie Pazifismus. Durch seine polemischen Texte gegen Staat und Kirche wurde er sogar für einige Monate inhaftiert.
Roter Faden der aktuellen Ausstellung im < rotor > sind Müller-Guttenbrunns Begriffsdefinitionen. 51 Gegenwartskünstler/innen zeigen Werke zum Thema Anarchismus. Ziel ist die Beschäftigung mit herrschaftsfreien Gesellschaftsmodellen in unserer heutigen Zeit.
„Anarchie ist Gesetz und Freiheit ohne Gewalt.“
Das Alphabet nach Herbert Müller-Guttenbrunn
Die Grundlage zur Ausstellung „Alphabet des anarchistischen Amateurs“ beruht auf dem gleichnamigen Buch nach Herbert Müller-Guttenbrunn . Mit satirischer Schonungslosigkeit wirft er einen Blick auf verschiedenste Alltagsbegriffe. Dabei tritt er an gegen das scharfe Regime seiner Zeit. Mit spitzzüngige Formulierungen und gnadenlosem Esprit stellt er Gesellschaftsnormen autoritätskritisch wie herausfordernd auf die Probe. Freiheit, Bedürfnisse, Creditanstalt, Cunnillingus, Sex, Besitz oder Café sind nur einige Beispiele aus dem umfassenden Kompendium. Die erste, gedruckte Auflage wurde im Jahr 2007 von Herausgeberin Beatrix Müller-Kampel veröffentlicht.
Exponate der aktuellen Ausstellung im < rotor >
51 Künstler/innen der Gegenwart nahmen die Begriffsdefinitionen von Herbert Müller-Guttenbrunn zum Anlass, eigene Kunstwerke damit in Verbindung zu bringen. In der entstandenen Ausstellung „Alphabet des anarchistischen Amateurs“ im < Rotor > befindet sich eine durchmischte Auswahl unterschiedlicher Kunstformen. Von der klassischen Bildzeichnung, über Fotografien, bis hin zu aufwendigen Installationen aus diversen Materialien. Ziel der Exponate ist die kritische Auseinandersetzung mit radikaldemokratischen Prinzipen. Dieser Diskurs findet im öffentlichen Raum statt und möchte Gleichheit wie Gerechtigkeit als Prämisse führen. Allen Kunstwerken gemein ist der Gedanke Horst Stowassers: „Mit Sicherheit sind mehr Menschen „Anarchisten“ als nur diejenigen, die sich so nennen. Viele wissen es nur nicht!“
Wie viel Anarchie brauch die Demokratie?
Anarchie ist per Definition ein Zustand von Abwesenheit der Herrschaft. Im geläufigen Sprachgebrauch wird der Begriff gerne mit Gesetzlosigkeit, Chaos bzw. Terror verbunden. Die tatsächliche Bedeutung meint jedoch eine Utopie von gewaltlosen Gesellschaftsformen. In einer Anarchie besteht somit keine Repression durch Gebilde wie Staat, Machthaber oder zentralen Herrschaften. Geprägt von sozialen wie gesellschaftlichen Normen wird eine gleichwertige Kultur gelebt. Der Philosoph Immanuel Kant verwendete folgende Definition: „Anarchie ist Gesetz und Freiheit ohne Gewalt.“
Im Gegensatz stellt der Begriff Demokratie im Kern ein Oxymoron dar. Er bedeutet Volksherrschaft. Nach dieser Definition würde das gesamte Volk über das gesamte Volk entscheiden. In der Praxis bestimmen jedoch alle Menschen, welche Personen bzw. Institutionen herrschen dürfen. In unserem Fall bedeutet dies die parlamentarische Führung des Gesellschaft. Für die meisten Menschen stellt diese Regierungsform die „beste Lösung“ dar, da Anarchie aufgrund Interessensunterschiede nur in kleinen Gemeinschaften funktioniert.
Wie sieht es nun in unserer jetzigen Gesellschaft aus? Demokratie bedeutet, dass man eine Partei wählt (oder auch nicht wählt), die das Volk vertreten soll. Das Problem dabei ist, dass ein Parteiprogramm niemals alle persönlichen Interessen treffen wird. Man wählt also eine notwendige Alternative. Anarchismus würde bedeuten, selbst aktiv in der Gestaltung mitwirken zu müssen. Dies bedarf einer großen Selbstverantwortung sowie einem realistisches Mitdenken. Unsere Gesellschaft ist jedoch auf Konsum bzw. Leistung ausgerichtet. Daher ist es (noch) sehr utopisch, ein anarchistisches System zu leben. In der Praxis wäre es vorteilhaft, wenn kleinere Gruppierungen (Vereine, Dörfer, Kommunen,…) aktiv den Anarchismus pflegen. Dadurch wären sie zum Teil von der Demokratie entwurzelt und hätten mehr Freiheiten in ihren Entscheidungen.
Wie viel Anarchismus braucht also die Demokratie? Beide Systeme könnten gewisse Schnittmengen bilden. Gleichzeitige Koexistenz kann nicht funktionieren. So liegt es in der Hand einzelner Gruppen, den besten Spagat zu finden. Jedoch wäre eine Entscheidung bereits wieder ein Schritt in die Demokratie.
Fazit zur Ausstellung „Alphabet des anarchistischen Amateurs“
Die Ausstellung Alphabet des anarchistischen Amateurs ist vielfältig, tiefgründig und sicher keine leichte Kost. Sie wirft unzählige Fragen auf, welche verschiedenste Antwortmöglichkeiten zulässt. Über einzelne Exponate lässt sich stundenlang diskutieren. Zig mal bin ich vor Kunstwerken gestanden, ohne zufriedenstellend eine Lösung erdacht zu haben. Im Gespräch mit anderen Menschen ergeben sich spannende Diskussionen.
Selbst wenn ich die Exponate isoliert, ohne den Hintergrund der Anarchie, betrachte, kann ich tief in die Welt der Kunst eintauchen. Steht man selbst im Wald, dann bietet sich der rege Austausch mit den offenherzigen Mitarbeitern/innen an. Häufig entsteht ein spannender Diskurs mit neuen Ideen sowie Sichtweisen. In meinen Augen ist die Ausstellung hervorragend gelungen. Mehrere Besuche sind sinnvoll, denn die Entdeckungsmöglichkeiten sind riesig. Außerdem: langweilig wurde mir im < rotor > noch nie.